Volksreligion, Staatsreligion und Christentum

 

Die ursprüngliche römische Religion kennt kaum "anthropomorphe" (d.h. in Menschengestalt gedachte) Gottheiten. Bei Gebeten, Weissagungen, Opfern und Festen stand die Fruchtbarkeit von Scher und Vieh im Mittelpunkt. Alle religiösen Verrichtungen geschahen möglichst formelhaft, man hielt sie nur in der einmal festgelegten Form für wirksam. Für die altrömische Bauernreligion ist die Welt beherrscht von Personifikationen bzw. Abstraktionen von Dingen der Natur und gesellschaftlichen Werbegriffen: Tellus (Erde), Ops (Ernte), Ceres (Feldfrüchte, Beschützerin der Plebs), Carmenta (Quellen, Weissagung) (…)

Seit dem 5. Jh. geriet die römische Bauernreligion, teils durch Vermittlung der Etrusker, unter den Einfluss der Mythologie der Griechen, die in Unteritalien bis hinauf nach Neapel siedelten. Apollo, Castor und Pollux, Hercules (Herakles), Aesculapius (Asklepios) u.a. wurden "importiert". In der Folge kam es zu einer immer stärkeren Überlagerung und Verschmelzung der römischen und griechischen Gottheiten und damit zu einem tiefgreifenden Wandel der römischen Religion, freilich wohl eher in den Kreisen der Gebildeten als des einfachen (Bauern- und Handwerker-) Volkes.

Die Römer hielten sich für das frömmste Volk, und nicht zuletzt deshalb war es wohl möglich, dass sie im "pius Aeneas" einen Stammvater sehen konnten, mit dem sich ihr politisches Sendungsbewusstsein auf das Walten der Götter zurückführen liess. Kennzeichnend für die römische Religion aller Zeiten ist weiter, dass sie keine ethischen Forderungen an das Verhalten der Manschen erhob. Zwar "wachen die Götter darüber, dass Gerechtigkeit herrscht, was aber Gerechtigkeit im Einzelfall ist, entscheidet der Senat (durch ein Gesetz) oder der Richter (durch sein Urteil)". Auf diese Weise konnte also nie ein Konflikt zwischen Religion und Politik entstehen; ganz anders war es daher mit dem Christentum (s.u.).

Auf ihren Eroberungszügen lernten die Römer viele fremde Gottheiten und Kulte kennen, die sie faszinierten und die schnell und bereitwillig in Rom aufgenommen wurden: Isis aus Ägypten, Mithras aus Persien, Kybele aus Kleinasien u.a. Besondere Anziehungskraft übten Mysterienkulte aus, Kulte, die im Verborgenen stattfanden und zu deren Ausübung nur Eingeweihte zugelassen waren, wie der Kult der Magna Mater, des Bacchus, des Mithras u.a. Nur mit dem Gott der Judäer konnten die Römer wenig anfangen, da er mit der offiziellen Staatsreligion nicht vereinbar war ("du sollst nicht andere Götter haben neben mir"). Dieses Problem bestand bei anderen "importierten" Gottheiten nicht.

Unvoreingenommen und neugierig waren die Römer also fremden Religionen gegenüber; nie wäre es ihnen in den Sinn gekommen, andere zu ihrer eigenen Religion bekehren zu wollen; wegen ihrer Toleranz in Religionsfragen konnte daher der Apostel Paulus auf seinen Missionsreisen ungehindert öffentlich predigen.

Und dennoch wurden seit Nero Christen immer wieder in Abständen als Staatsfeinde verfolgt. Zentraler Anklagepunkt war ihre Weigerung, am Kaiserkult teilzunehmen, was nach ihrem Bekenntnis einer Gotteslästerung gleichgekommen wäre.

Christen wurden jedoch nicht verfolgt, weil sie an nur einen Gott glaubten, sondern weil sie sich vom gesellschaftlichen Leben absonderten, Feste und Vergnügungen wie sportliche Wettkämpfe oder Kampfspiele mieden oder weil sie durch ihre Bekehrungsversuche oft Anstoss erregten. So kamen auch viele Gerüchte über sie in Umlauf (etwa, die Christen ässen bei ihren geheimen Zusammenkünften Kinderfleisch).

Die grausame Verfolgung unter Nero bedeutet nicht, dass dieser Kaiser eine besondere Abneigung gegen die Christen hatte; nein, Nero brauchte wohl einen Sündenbock, um den aufkommenden Verdacht von sich abzulenken, er selbst habe Rom im Jahre 64 n. Chr. angezündet, um Platz für seine gigantischen Baupläne zu schaffen. Wegen der vielfachen Vorurteile konnten die Christen leicht dazu herhalten, vielleicht war Nero ausserdem von seiner Frau Poppaea Sabina, die freundschaftliche Kontakte zu Juden pflegte, gegen die Christen beeinflusst worden, denn unter den Juden galten die Christen als eine fehlgeleitete Sekte, Dass das Christentum schliesslich doch zu einer grossen Gemeinde heranwachsen konnte, dafür sind folgende Punkte von Bedeutung:

  1. Die Christen bemühten sich unablässig, andere zu bekehren und Nächstenliebe zu üben.
  2. Nur aus ihrem Glauben heraus, dass sie nach dem Tod ein besseres Leben erwarte, konnten die Christen in einer für ihre heidnische Umwelt unfasslichen Tapferkeit die schlimmsten Foltern und bestialischen Tötungsarten ertragen, ohne ihr Christsein zu leugnen. Wer von den Christen seinen Glauben leugnete, wurde sofort ohne weitere Nachprüfungen freigelassen. Die Furchtlosigkeit gegenüber dem Sterben wuchs zeitweilig bis zur Todessehnsucht, und Selbstmord wurde und er Antike (auch unter den Christen) noch nicht abgelehnt. Es ist verständlich, dass zunächst die armen Leute, darunter viele Sklaven und Freigelassene, von diesem neuen Glauben angezogen wurden, denn ihnen ging es schlecht genug, dass sie bereitwillig all ihre Hoffnung auf ein jenseitiges Leben setzten.
  3. Die römische Religion war in der Kaiserzeit zum inhaltslosen Kult erstarrt. Die Manschen erkannten in den unzähligen und beliebigen Gottheiten und Kulten keine Orientierung für ihr Leben mehr. Die Gebildeten hatten sich schon längst verschiedenen philosophischen Weltanschauungen verschrieben. Auch die religiösen Reformen des Augustus oder der Versuch, einen einzigen Reichsgott (Sol Invictus) einzuführen, scheiterten. Die vom Christentum verkündete Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits nach der Mühsal auf Erden erschien immer mehr Menschen verheissungsvoller als das, was andere Religionen und Philosophen ihnen boten.
  4. Ende des 2. und stärker noch im 3. Jh. bekannten sich dann auch zunehmend philosophisch Gebildete, Angehörige der Oberschicht, zum Christentum. Tertullian (um 200 n. Chr.) widerlegte von seinem christlichen Standpunkt aus die gegen die Christen vorgebrachte Anklage, sie seien Staatsfeinde, weil sie den Kaiserkult ablehnten, und legte dar, dass sie ordentliche und kaisertreue Staatsbürger seien, dass aber Kaiserkult und Kaisertum ganz verschiedene Ding seien. Mit dem Zustrom dieser Schichten war der neue Glaube aus seiner sozialen Isolierung gelöst.
  5. Als die Kirche schliesslich schon ein bedeutender Machtfaktor im Reich geworden war, versuchte der Kaiser Septimius Severus 201 durch ein Gesetz, den Übertritt zum Juden- oder Christentum zu verbieten. Unter Decius kam es 250/251 erstmals zu ausgedehnten staatlichen Christenverfolgungen, die 303 in der besonders grausamen Christenverfolgung unter Diokletian (284-305) gipfelten. Doch beschleunigten diese Massnahmen nur den Sieg des neuen Glaubens. Auch unter schlimmsten Martern widerriefen die meisten ihr Bekenntnis nicht. Ein Beispiel für die ausgesuchte Grausamkeit mag genügen: Der Körper eines Angeklagten wurde durch Peitschenhiebe bis auf die Knochen zerfleischt, dann wurde Salz und Essig in die Wunden gegossen, und als dies noch nicht zum gewünschten Ergebnis führte, wurde noch ein Feuer unter dem Opfer angezündet, bis es schliesslich starb. Die nichtchristliche Bevölkerung hatte genug von solchen Praktiken; man bewunderte jetzt die Standhaftigkeit der Christen. Die Verfolgung war völlig sinnlos geworden, zumal die Christen immer mehr Anhänger fanden. Durch das Toleranzedikt Konstantins 313 schliesslich wurde auch den Christen die völlige Religionsfreiheit garantiert. Nun war das Christentum zur einflussreichsten Religion geworden, in der folgenden Zeit (unter Theodosius d. Gr., 379-395) wurde es zur Staatsreligion.